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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.08.2020


Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit. Dokumentarfilm von Yulia Lokshina. Kinostart: 22.10.2020
Helga Egetenmeier

In ihrem mit dem Max Ophüls Preis ausgezeichneten Dokumentarfilm macht Yulia Lokshina die aktuellen Arbeitsbedingungen in der deutschen Fleischindustrie zum Thema. Fertiggestellt wurde die filmische Langzeitbeobachtung über osteuropäische Leiharbeiter*innen in der deutschen Fleischindustrie vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie.




Bereits vor drei Jahren begann die 1986 in Moskau geborene Filmemacherin mit der Arbeit an ihrem Film.

Sie ergänzt in ihrem Dokumentarfilm ihre Aufnahmen in der westdeutschen Provinz durch einen zweiten Erzählstrang, den Proben einer bayerischen Schultheatergruppe für das Theaterstück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe". Das Bühnenstück wurde zwischen 1929 und 1931 von Bertold Brecht gemeinsam mit Elisabeth Hauptmann und Emil Burri entwickelt. Beide Filmebenen könnten mit den Leiharbeiter*innen und den Schüler*innen eines Münchner Gymnasiums nicht unterschiedlicher besetzt sein. Lokshina verwebt diese ungleichen Szenen, indem sie Gespräche und Geräusche der folgenden Aufnahme bereits in der vorherigen beginnen lässt. Damit kontrastiert sie durch die nicht zusammengehörenden Bild- und Tonaufnahmen die unterschiedlichen Lebenswelten und bringt sie gleichzeitig zusammen. Gleichzeitig produziert sie damit eine Unruhe, die von der Zuschauer*in mehr Aufmerksamkeit fordert.

Kapitalistische Ausbeutung: Brechts Kritik der Schlachthöfe

Beinahe einhundert Jahre trennen die menschenunwürdigen Arbeitsverhältnisse, die das Theaterstück erfasst, von denen in der westdeutschen Provinz, die der Dokumentarfilm beschreibt. Und doch erscheinen sie fast identisch. Denn die kapitalistische Marktwirtschaft bedient sich damals wie heute ausbeuterischer Arbeitsbedingungen zur Gewinnmaximierung. Und die Politik, die die Menschenrechte verteidigen sollte, greift nicht regulierend ein. Wirtschaftliche Interessen stehen im Vordergrund. Bei Brecht ist der Hintergrund die Überproduktion, bei Lokshina ist es der Preiskampf um billige Fleischprodukte.

Die Filmemacherin zeigt, dass die Kritik am Zustand der Arbeitsgesellschaft weiterhin aktuell ist und dass sozialkritische Kunst allein nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen führen kann. Deutlich zu sehen ist dies bei den wie beiläufig von der Kamera eingefangenen Bemühungen der Münchner Gymnasiast*innen, den Inhalt des Theaterstücks zu verstehen. Ihre Lebensrealität steht in starkem Gegensatz zu der ihrer Figuren und so fällt es ihnen schwer, den leidenschaftlichen Ausdruck für deren Verhalten zu finden, den der Regisseur von ihnen erwartet. Dieser Kontrast zwischen dem realen Leben in Armut und dem theatralischen Spielen von Ausbeutung, erzeugt ein Unbehagen, das den Film durchzieht und die starren, an Emotionen gebundenen, gesellschaftlichen Klassenschranken widerspiegelt.

Die Lebensverhältnisse von Leiharbeiter*innen

Der Dokumentarfilm schockiert in seinem Teil über osteuropäischen Leiharbeiter*innen in einem westdeutschen Schlachthof nicht mit Bildern von eingepferchten oder geschlachteten Tieren. Auch zeigt die Regisseurin keine eng an eng am Fließband stehenden Arbeiter*innen, die Fleisch zerteilen oder verpacken. Sie wählt eine leise und gehaltvolle Bildsprache, für die sie ihre Protagonist*innen außerhalb ihres Arbeitsplatzes begleitet und sie von ihrem Leben und Arbeiten erzählen lässt. So erfahren wir von den miserablen Wohnverhältnissen, dem hohen zeitlichen Aufwand, die Strecke zum Arbeitsplatz zurückzulegen, der Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes, an dem es immer wieder Verletzte gibt, oder auch von tragischen Todesfällen. Und dass wegen der Schichtarbeit der Besuch von Deutschkursen kaum möglich ist, was wiederum zur sozialen Ausgrenzung innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft führt.

Ein wichtiger Aspekt des Films sind die zivilgesellschaftlichen Unterstützer*innen, die den Arbeiter*innen bei Behördengängen, wie auch dem Erlernen der Sprache, zur Seite stehen. Gemeinsam kämpfen sie in Demonstrationen und bei einer Podiumsdiskussion für bessere Arbeitsverhältnisse.

Das Thema über den Film hinaus: die Corona-Pandemie als Chance?

Je weniger Lohn ein Unternehmen zahlt, desto mehr Gewinn bleibt übrig. Wie dafür der Mindestlohn umgangen wird, dafür gibt der Film ebenso Beispiele, wie diese auch durch die Corona-Fälle in der deutschen Fleischindustrie ans Licht kamen. Für Lokshinas Dokumentarfilm ließ sich niemand interviewen, die/der in den unzumutbaren und überteuerten Unterkünften leben muss, die zu Corona-Hotspots wurden. Doch sie wurde durch ihre Interviewpartner*innen auf deren Lebenssituation aufmerksam gemacht. Diese sagten auch in die Kamera, dass die Menschen in den engen Massenunterkünften nicht darüber reden dürften, damit sie nicht Job und Schlafplatz verlieren.

Gut einen Monat bevor in Deutschland von einer Corona-Pandemie gesprochen wurde, am 25. Januar 2020, erhielt Yulia Lokshina für ihren Dokumentarfilm den Max Ophüls Preis. "Ohne zu predigen setzt der Film auf Beobachtung, Empathie und intellektuelle Durchdringung der Thematik. Durch seine filmische Versuchsanordnung gelingt der Regisseurin ein ganz eigener Zugang, der das Publikum aufgewühlt zurücklässt.", so die Begründung der Jury, denn der Film lenke "in einer dramaturgisch sich verdichtenden Erzählung unsere Aufmerksamkeit behutsam auf das, was niemand sehen will: Die beklagenswerte Zeitlosigkeit des kapitalistischen Ausbeutungssystems manifestiert sich auch mitten in unserer Gesellschaft."

Durch die starken Corona-Ausbrüche in den Schlachtfabriken gewinnt Lokshinas zurückhaltender und dennoch wuchtiger Film an der Bedeutung, die die Menschen, um die es dabei geht, verdienen.

AVIVA-Tipp: Yulia Lokshina ist ein vielschichtiger Dokumentarfilm über die menschenverachtenden Ausbeutungsverhältnisse in der Fleischindustrie gelungen, der die Zuschauer*innen mitnimmt. So stehen wir bei den Leiharbeiter*innen vor den Werkstoren der Schlachtfabriken und beobachten Gymnasiast*innen bei ihren Schwierigkeiten, sich in ein kapitalismuskritisches Brechtsches Theaterstück hinein zu versetzen. Dieses Zeitdokument belegt die Abgründe der kapitalistischen Ausbeutung mitten in Europa und zeigt auch, weshalb arme, abhängig Beschäftigte durch die Corona-Pandemie besonders gefährdet sind.

Auszeichnungen:
2020 Max Ophüls Preis für Dokumentarfilm
2020 Megaherz Student Award beim Dokfest München

Zur Regisseurin: Yulia Lokshina, geboren 1986 in Moskau, nahm sie 2011 ihr Studium der Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München auf. Während ihrer Zeit an der HFF realisierte sie die kurzen Dokumentarfilme "Tage der Jugend" (2016) und "After War" (2017). Im Rahmen ihrer Arbeit am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn entstanden parallel audiovisuelle Projekte an der Schnittstelle von Film und Wissenschaft, sowie Vorträge und Publikationen zum Dokumentarischen. Für ihre experimentelle Videoarbeit "Subjektive Hill" (2019) erhielt sie 2018 gemeinsam mit der Künstlerin Angela Stiegler das Medienkunst-Stipendium der Kirch Stiftung, sowie den Videodox Förderpreis 2019.
Yulia Lokshina bei Crew United > www.crew-united.com

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Dokumentarfilm, Deutschland 2020
Buch und Regie: Yulia Loshina
Bildgestaltung: Zeno Legner, Lilli Pongratz
Montage: Urte Alfs, Yulia Lokshina
Produzent*innen: Isabelle Bertolone, Marius Ehlayil
Verleih: jip film und verleih
Sprachen: Deutsch, Rumänisch, Polnisch, Russisch
Untertitel: Deutsch oder Englisch
Lauflänge: 92 Minuten
Kinostart: 22.10.2020

Weitere Informationen unter:
www.jip-film.de
www.facebook.com



Weitere Informationen unter:

www.servicestelle-gegen-zwangsarbeit.de
Die Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel hat 2019 und 2020 eine Analyse der Paket- und Fleischbranche erstellt. Außerdem Anzeichen von Arbeitsausbeutung und Zwang werden anhand von ILO-Indikatoren untersucht und mit Hilfe von Fallbeispielen illustriert. Der Bericht lässt sich auf dieser Webseite als PDF herunterladen.

www.wuerde-gerechtigkeit.de
Der Verein "Aktion Würde & Gerechtigkeit" will die oft prekäre und menschenunwürdige Lebens- und Arbeitssituation von Arbeitsmigrant*innen verbessern. Sein Ziel ist Arbeitsmigrant*innen aus Ost- und Südosteuropa bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu stärken, damit ihre Integration und Teilhabe gelingt. Der Verein wurde im Januar 2019 in Lengerich (Westfalen) gegründet, und bezieht sich stark auf die Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie. Die Webseite ist auf Rumänisch, Bulgarisch und Deutsch verfügbar.

www.caritas.de
Caritas Deutschland "Maximale Ausbeutung in der Fleischindustrie" - Interview von 2018 mit dem Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen und der Diplom-Sozialpädagogin Cornelia Hedrich über ihr Beratungsangebot für Werkvertragsarbeiter*innen-Familien im Kreis Gütersloh. Dort werden in der Fleischindustrie etwa 5000 Menschen, meist aus Südosteuropa, beschäftigt, die zumeist unter unwürdigen Bedingungen leben müssen. Mit Video-Interview vom Mai 2020 zu den zahlreichen Covid-19-Fällen in deutschen Fleischbetrieben.

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Beitrag vom 25.08.2020

Helga Egetenmeier